Go East – eine neue Perspektive für eine progressive Osteuropapolitik
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat das soziale und wirtschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig verändert. Auch wir Jungsozialist*innen mussten unsere Haltung zu Themen wie der Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete oder der Wahrnehmung internationaler Politik überprüfen.
Die mit dem Krieg verbundenen, massiven Folgen der „Zeitenwende“ haben den Blick auf die Interessen und Wahrnehmungen sowie die Chancen unserer Partner*innen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa geändert. Unsere Verfehlungen in der vergangenen Russlandpolitik und die daraus folgenden Pflichten zur Aufarbeitung sollen sich daher insbesondere auf unsere Nachbarn im Osten konzentrieren, nicht nur unserer Solidarität und der Bereitschaft willen. Mit der Berücksichtigung unserer gemeinsamen Geschichte in Europa und unserer Verantwortung als internationalistischer Verband möchten wir der jungsozialistischen Idee nachkommen, die Gesellschaft als solche zu formen und den unkritischen Narrativen gegenüber dem russischen Regime in den ostdeutschen Bundesländern entgegenzustehen.
(Ost-)Deutschland und Sachsen-Anhalt spielen schon seit Jahrhunderten eine Rolle bei unseren östlichen Nachbarn. Seit dem Mittelalter war beispielsweise das Magdeburger Recht ein wichtiger staatlicher Faktor. Von Quedlinburg bis Charkiw wandten rund 1000 Städte in Mittel- und Osteuropa dieses kaufmännisch geprägte Rechtssystem an. Es ermöglichte städtische Autonomie, die Unantastbarkeit von Leib und Leben, das Recht auf Besitz sowie die individuelle Freiheit der Bürger – alles Werte, die nun in der Ukraine bedroht sind. In der Moderne wiederum waren die Beziehungen nach Mittel- und Osteuropa von den leidvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und später der sowjetischen Hegemonie innerhalb des Warschauer Paktes und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) geprägt.
Trotz des undemokratischen Einflusses der Sowjetunion unterscheidet sich die Affinität gegenüber Russland in Ostdeutschland erheblich von Mittel- und Osteuropa. Während im Großteil der Staaten östlich der ehemaligen DDR die Ablehnung gegenüber dem russischen Regime hoch ist, finden wir in Ostdeutschland weiterhin eine hohe Zustimmung und wenig kritische Auseinandersetzung mit der russischen Entwicklung in den letzten Jahren. Wir haben durch die in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt organisierten Großdemonstrationen gesehen, wie stark die Russland-Affinität gerade im Osten verankert ist. Während in Westdeutschland 63 Prozent der Bürger*innen die Unterstützung der Ukraine mit Waffen befürworten, sind es im Osten Deutschlands lediglich 40 Prozent.
In der Vergangenheit hatte besonders Deutschland von der wirtschaftlichen Kooperation mit Russland profitiert, ohne dies mit politischen Forderungen zu verknüpfen. Die universelle Verfügbarkeit russischen Gases hat beispielsweise im sachsen-anhaltischen Chemiedreieck zu großen Standortvorteilen geführt, während wir damit die Voraussetzung für eine noch stärkere Bedrohungslage unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn geschaffen haben.
Wir Jusos sehen uns in der Verantwortung, diese Fehler aufzuzeigen. Nicht nur unsere Position in der Mitte von Europa, sondern auch unsere Geschichte eines geteilten Staates, verwurzelt sowohl im westlichen als auch im östlichen Teil des Kontinents, bieten uns die Möglichkeit, ein Scharnier zwischen den Interessen der westeuropäischen und osteuropäischen Staaten zu sein. Wir sehen uns in der Pflicht zu erkennen, dass wir unsere Position vor allem für westeuropäische Interessen genutzt und damit die Interessen und Lebenswahrheiten Mittel- und Osteuropas hintenangestellt haben.
Mit den Montagsdemonstrationen, direkt anschließend an die Covid-Proteste, sahen wir auch in Sachsen-Anhalt eine extreme Mobilisierung und eine klare Veränderung in der europapolitischen Debatte. Rechte Gruppierungen, darunter die AfD und die “Freien Sachsen”, bedienten sich klar bei von der russischen Regierung beeinflussten Narrativen, die Angst schürten und somit den Destabilisierungsbemühungen Moskaus zuarbeiteten. Auch die Bemühungen des stellvertretenden AfD-Landesvorsitzenden Hans-Thomas Tillschneider, mit Unterstützung der AfD-Landespartei und der Landtagsfraktion, durch eine russische “Hilfsorganisation” im September 2022 in den russisch besetzten Teil der Ostukraine zu reisen, um unter dem Slogan “Ami go home” den Schulterschluss zwischen Deutschland und Russland zu propagieren, werden von uns nicht vergessen. Wir sehen eine Kooperation innerhalb der europäischen Rechten, die eindeutig versucht, unsere Demokratie mit einer nationalistischen und menschenverachtenden Agenda zu verdrängen.
Forderungen, die Nord Stream 2-Pipeline-Stream zu reparieren und jegliche Propagierung russischer Erzählungen über die Verhandlungsbereitschaft Russlands lehnen wir daher ab. Das russische Regime zeigt immer wieder, dass es nicht bereit ist zu verhandeln. Für die Erreichung seiner Kriegsziele ist es auch weiterhin bereit, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Ukraine zu begehen. Unsere Antwort darauf kann also nur sein: Wir unterstützen die Ukraine in ihrem Kampf um Souveränität und auf ihrem Weg in die Europäische Union. Dazu gehört für uns neben der kontinuierlichen finanziellen und humanitären Hilfe auch die Lieferung von Waffen.
Über den Krieg hinaus wird die Ukraine Hilfen brauchen, um ihr Land wieder aufzubauen. Darum müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Ukraine sich von diesem schrecklichen Krieg erholt und Teil unserer Europäischen Gemeinschaft werden kann. Notwendig dafür wird unter anderem ein Wiederaufbauprogramm sein. Auch Sachsen-Anhalt kann und sollte seinen Teil dazu beitragen – mit neuen Städtepartnerschaften, verstärktem Austausch und wirtschaftlicher Kooperation. Bei Hilfen zum Wiederaufbau und einer europäischen Integration der Ukraine gilt es jedoch zu beachten, dass diese auf Augenhöhe geschehen und keine einseitigen Vorteile für die Staaten der Europäischen Union in den Vordergrund gestellt werden. In diesen Verhandlungen muss die Ukraine Handlungs- und Gestaltungsmacht erhalten.
Auch sicherheitspolitisch hat sich seit dem Angriff auf die Ukraine viel verändert. Für uns ist klar: Wir nehmen die Ängste und Sorgen unserer osteuropäischen Nachbarn ernst. Der plötzliche Überfall auf die Ukraine hat uns die schreckliche Wahrheit aufgezeigt, wie real diese Ängste sind. Während wir vor über einem Jahr noch dachten, ein Krieg inmitten von Europa sei nicht mehr möglich, sind wir im letzten Jahr Zeugen des Gegenteils geworden. Die Gefahr ist real. Das bedeutet auch, dass wir unseren Sicherheitsbegriff erweitern und die Sicherheitspolitik in Europa stärken müssen, jedoch nicht die nationale Aufrüstung aller Einzelstaaten. Wir stehen weiterhin zu der Forderung einer gemeinsamen europäischen Armee zugunsten nationaler Abrüstung. Nur so werden wir unsere zukünftige Sicherheit gut organisieren können. In einem solch engen Bündnis wie der Europäischen Union ist die Existenz von 27 Armeen nicht sinnvoll. Wir verstehen aber, dass aufgrund der leidvollen Erfahrungen der mittel- und osteuropäischen Staaten durch den von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieg das Bedürfnis nach nationaler Sicherheit durch eigene Armeen hoch ist. Hier werden wir viel Vertrauen (wieder-)aufbauen müssen. Dies gelingt uns am besten mit der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik (GSVP), für welche wir klar einstehen.
Um gemeinsam gegen die drohenden Gefahren anzukommen, braucht es starke, grenzübergreifende Verbindungen und Lösungen. Unsere Grenzregionen müssen gestärkt werden und eine verbindende Wirkung zu erhalten, die ein gemeinsames Europa ermöglicht. Konkret gilt es, politisch Vereine und Organisationen zu unterstützen, die grenzübergreifende Begegnungen schaffen, Vorurteile und das damit verbundene Unbehagen abbauen. Auch den grenzübergreifenden “Euroregionen” an sich muss eine größere Relevanz und Bedeutung zugesprochen werden. Diese stellen eine gute Möglichkeit dar, grenzübergreifende Zentren aufzubauen, die sowohl territoriale als auch mentale Grenzen verschwinden lassen. Mecklenburg-Vorpommern hat mit dem Konzept des „demokratischen Ostseeraums“ bereits einen guten Schritt in diese Richtung vorgelegt. In Sachsen-Anhalt wiederum wird das geplante Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation eine Möglichkeit darstellen, internationale Kooperation zu fördern und Antworten auf die internationalen Herausforderungen der Zukunft zu geben. Wir als Jungsozialist*innen sollten dies in Verbindung mit unseren Partnerverbänden in Mittel- und Osteuropa aktiv begleiten.
Derzeit haben es progressive Bewegungen und Parteien in Mittel- und Osteuropa besonders schwer. Konservativ-nationalistische Politik in Verbindung mit autoritären Staatsumbauten sind auf dem Vormarsch. Das zeigt sich auch in der Gesellschaft und an den Grenzen. Umso wichtiger ist es, die progressiven politischen Kräfte in den Ländern stärker zu vernetzen und zusammenzubringen. Das ist unsere Verantwortung als Netzwerkpartei. Dafür benötigt es mehr gemeinsame Foren und Austauschmöglichkeiten mit unseren Schwesterparteien in Mittel- und Osteuropa, aber auch mit Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir brauchen ein internationales Engagement gegen anti-europäische Umtriebe und einen grenzüberschreitenden Kampf für Antifaschismus und Antirassismus.
Aus wirtschaftspolitischer Sicht eint uns und unsere östlichen Nachbarn bereits vieles. Das System der Planwirtschaft, der gewaltige Strukturbruch und eine weitreichende Transformation waren und sind eine gemeinsame Erfahrung. Viele lokale Unternehmen mussten schließen, viele Unternehmen mit Sitz in Westeuropa haben die Chancen für eine Übernahme genutzt. Ost- und Mitteleuropa ist wie Ostdeutschland in Teilen zur verlängerten Werkbank des Westens geworden. Geringe Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen sind grenzüberschreitend die Folge. So liegt weiterhin im östlichen Teil der Europäischen Union im Vergleich zu Westeuropa eine deutlich andere Wirtschaftsstruktur vor. Die Vermögen und Möglichkeiten, in Zukunftstechnologien zu investieren, sind erheblich geringer. Gleiches gilt für staatliche Investitionen und Beihilfen.
Wir werden gemeinsam die grüne Transformation des 21. Jahrhunderts meistern müssen. Umso wichtiger ist im gemeinsamen Interesse, dass seitens der EU ausreichend Mittel zur Unterstützung der anstehenden Investitionen zur Verfügung gestellt werden. Programme wie der Just Transition Fund und der Green New Deal sind dafür gute Instrumente. Für eine wirklich schlagkräftige Europäische Union im industriepolitischen Bereich sind aber weitere Förderungen notwendig. So fordern wir zum einen die Einrichtung europäischer Eigenmittel zur Bekämpfung der strukturellen Benachteiligung Osteuropas.
Zum anderen kann gute Transformation nur mit guter Arbeit gelingen. Mit dem Strukturwandel der neunziger Jahre hat sich auch die Arbeitsrealität in Ostdeutschland und Mitteleuropa geändert. Die Transformation ermöglicht uns, dies zu ändern. West und Ost sollen sich künftig auf Augenhöhe begegnen. Entscheidungen wie die Mindestlohnrichtlinie sind dafür der richtige Weg. Darüber hinaus benötigt es weiterhin Initiativen, beispielsweise für mehr Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung in der gesamten Europäischen Union.